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Wegfall der Hinzuverdienstgrenzen – Handlungsbedarf für die betriebliche Altersversorgung?
Mit Inkrafttreten des 8. SGB IV-Änderungsgesetzes zum 01.01.2023 sind die Hinzuverdienstgrenzen für den Bezug einer vorgezogenen Altersrente in der gesetzlichen Rentenversicherung weggefallen. Im Zuge der Gesetzesreform wurden auch die Voraussetzungen für den Bezug einer vorgezogenen Altersrente aus der betrieblichen Altersversorgung („bAV“) vereinfacht.
Roland Horbrügger und Dr. Rainer Goldbach über die Änderungen der Voraussetzungen für den Bezug einer vorgezogenen Betriebsrente und den sich daraus ergebenden Handlungsbedarf für Arbeitgeber.
Inwieweit beeinflusst der Wegfall der Hinzuverdienstgrenzen die Ansprüche der Arbeitnehmenden auf eine vorgezogene Altersrente aus der bAV?
Dr. Rainer Goldbach: Nach § 6 Betriebsrentengesetz (BetrAVG) haben Arbeitnehmende Anspruch auf eine vorgezogene Betriebsrente, wenn sie eine Altersrente aus der gesetzlichen Rentenversicherung (gRV) als Vollrente in Anspruch nehmen. Bislang regelte § 34 Abs. 2 Sozialgesetzbuch 6. Buch (SGB VI), dass Anspruch auf eine Vollrente in der gRV nur besteht, wenn eine Hinzuverdienstgrenze von 6.300 € p.a. nicht überschritten wird. Diese Regelung entfällt ab dem 1. Januar 2023 ersatzlos. Aus diesem Grund kann allein ein Hinzuverdienst den Anspruch auf vorgezogene Betriebsrente seitdem nicht mehr verhindern.
Roland Horbrügger: Je nach Ausgestaltung der Versorgungszusage können Mitarbeitende, die mit unverfallbarer Anwartschaft aus den Diensten des verpflichteten Arbeitgebers ausgeschieden sind und die Voraussetzungen des § 6 BetrAVG erfüllen, Anspruch auf eine vorgezogene Altersrente haben, auch wenn sie noch hohe Einnahmen haben. Genauso können aktive Mitarbeitende ggf. neben einem Einkommen vom die bAV zusagenden Arbeitgeber Ansprüche auf die vorgezogene Leistung aus der bAV geltend machen, sofern das Ausscheiden aus dem aktiven Arbeitsverhältnis keine Leistungsvoraussetzung ist.
Ergibt sich aus der Ausweitung des Anspruchs auf vorgezogene Altersrente Handlungsbedarf für Arbeitgeber, die die bAV als Direktzusage durchführen?
Roland Horbrügger: Wird die Versorgungszusage als Direktzusage durchgeführt, ist aus arbeitsrechtlicher Sicht bemerkenswert, dass der Anspruch auf vorgezogene Altersleistung gemäß § 6 BetrAVG nicht zulasten der Arbeitnehmenden abbedungen oder verändert werden kann. Enthält also eine Versorgungszusage noch einen Hinweis auf die Hinzuverdienstgrenzen als Leistungsvoraussetzung, besteht der Anspruch auf vorgezogene Altersleistung trotz Überschreitens dieser Grenzen, sobald die Voraussetzungen des § 6 BetrAVG vorliegen.
Dr. Rainer Goldbach: Wichtig ist an dieser Stelle jedoch, dass § 6 BetrAVG weiterhin den vorgezogenen Bezug einer Altersrente aus der gRV als Vollrente als (Mindest-) Voraussetzung für eine vorgezogene betriebliche Rente beinhaltet. Die Vollrente aus der gRV wird nun aber unabhängig vom Bezug eines Hinzuverdienstes gewährt. Arbeitgeber sollten die Versorgungszusagen unbedingt genau auf die dort geltenden Leistungsvoraussetzungen und ihre Wirksamkeit überprüfen und ggf. Anpassungen vornehmen. Insbesondere könnte u.E. auch geprüft werden, ob mit einer entsprechenden Gestaltung die Intention des Gesetzgebers aufgegriffen werden soll, Fachkräfte länger im Berufsleben zu halten bzw. an den eigenen Betrieb zu binden.
Besteht auch Handlungsbedarf, wenn Arbeitgeber die bAV über eine Unterstützungskasse durchführen?
Dr. Rainer Goldbach: Bei den mittelbaren Durchführungswegen der bAV ist immer das Arbeitsverhältnis zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmenden vom sog. „Deckungsverhältnis“ zwischen dem Arbeitgeber und dem mittelbaren Versorgungsträger zu unterscheiden. Im Arbeitsverhältnis besteht der Anspruch der Mitarbeitenden auf vorgezogene Altersleistung nach § 6 BetrAVG. Wenn der mittelbare Versorgungsträger – aus welchen Gründen auch immer – die Leistung nicht erbringen kann, muss der Arbeitgeber die Leistung gemäß § 1 Abs. 1 Satz 3 BetrAVG im Wege der Einstandspflicht erbringen.
Roland Horbrügger: Bei der Unterstützungskasse ist zu beachten, dass sie aus steuerlichen Gründen nur satzungsgemäße Leistungen erbringen darf. Die Satzungen der Kassen sehen grundsätzlich vor, dass sie nur dann leisten dürfen, wenn die Voraussetzungen des einschlägigen Leistungsplans erfüllt sind. Für die Leistung einer Unterstützungskasse im Deckungsverhältnis ist also allein der Leistungsplan maßgeblich. Enthält ein Leistungsplan noch einen Passus, dass die vorgezogene Altersleistung nur gewährt wird, wenn der oder die Versorgungsberechtigte einen bestimmten Hinzuverdienst nicht überschreitet, wird die Unterstützungskasse nicht leisten. Weil der arbeitsrechtliche Anspruch aber besteht, setzt sich der Arbeitgeber der Gefahr der Einstandspflicht aus. Die Leistungspläne sollten also unbedingt überprüft werden.
Und was gilt bei Pensionskassen?
Dr. Rainer Goldbach: Die Definition der Pensionskasse in § 232 Abs. 1 Versicherungsaufsichtsgesetz (VAG) beschreibt sie unter anderem als „rechtlich selbständiges Lebensversicherungsunternehmen, dessen Zweck die Absicherung wegfallenden Erwerbseinkommens wegen Alters, Invalidität oder Todes ist und das (…) Leistungen grundsätzlich erst ab dem Zeitpunkt des Wegfalls des Erwerbseinkommens vorsieht“. Dass der oder die Versorgungsberechtigte einen arbeitsrechtlichen Anspruch auf vorgezogene Betriebsrente haben kann, auch wenn das Erwerbseinkommen nicht wegfällt, führt im Deckungsverhältnis zwischen Arbeitgeber und der Pensionskasse zu Schwierigkeiten, weil der Gesetzgeber § 232 VAG bei der Gesetzesänderung zum Wegfall der Hinzuverdienstgrenze unverändert gelassen hat. Dies sollte schnellstens nachgebessert werden.
Roland Horbrügger: Man denke sich den Fall, in dem Mitarbeitende von ihrem Arbeitgeber eine Versorgungszusage erhalten haben und nach dieser Zusage Anspruch auf vorgezogene Betriebsrenten besitzen, obwohl sie daneben noch beim zusagenden Arbeitgeber weiterarbeiten und von diesem auch noch Erwerbseinkommen beziehen. Wenn diese Zusage über eine Pensionskasse durchgeführt wird, besteht im Arbeitsverhältnis zwischen Mitarbeitenden und Arbeitgeber der Anspruch auf Leistung. Im Deckungsverhältnis zwischen Pensionskasse und Arbeitgeber wäre die Pensionskasse nach § 232 VAG aber aufsichtsrechtlich gehindert, zu leisten. Auch hier droht eine Einstandsverpflichtung des Arbeitgebers.
Ist die Pensionskasse also immer gehindert, zu leisten, wenn Versorgungsberechtigte noch Erwerbseinkommen beziehen?
Roland Horbrügger: Nicht unbedingt. Nach unserer Auffassung sollte unterschieden werden: Bei denjenigen Berechtigten, die betriebstreu bleiben und eine Pensionskassenleistung neben dem Erwerbseinkommen des die bAV zusagenden Arbeitgebers erhalten sollen, besteht das zuvor beschriebene aufsichtsrechtliche Risiko. Bei denjenigen Berechtigten aber, die mit unverfallbarer Anwartschaft auf eine Pensionskassenleistung beim zusagenden Arbeitgeber ausgeschieden sind und nun eine Pensionskassenleistung neben einem völlig anderen Erwerbseinkommen bei einem neuen Arbeitgeber erhalten sollen, spricht viel dafür, anzunehmen, dass die Voraussetzung des „Wegfall des Erwerbseinkommens“ in § 232 VAG erfüllt ist.
Dr. Rainer Goldbach: Genau. Mit dem Erwerbseinkommen in § 232 VAG ist u.E. nur dasjenige Einkommen gemeint, das Berechtigte vom zusagenden Arbeitgeber beziehen und das Grundlage für die Pensionskassenversicherung war, denn die Pensionskassenleistung soll nur dessen Wegfall kompensieren. Anderes Erwerbseinkommen hindert die Pensionskasse nicht zu leisten. Diese Auffassung ist aber bisher nicht rechtlich entschieden. Die BaFin und der Gesetzgeber sind gehalten, hier entsprechende Klarheit zu schaffen, die gesetzlichen Vorschriften entsprechend nachzubessern und die Voraussetzungen des VAG an die nach Inkrafttreten des 8. SGB IV-Änderungsgesetzes am 01.01.2023 geltende Lebenswirklichkeit und die geänderten arbeitsrechtlichen Vorschriften anzugleichen.
Fazit
Die Arbeitgeber sollten sich auf jeden Fall mit dem Thema beschäftigen und ihre Versorgungszusagen hinsichtlich der Voraussetzungen der vorgezogenen Altersrente aus der bAV überprüfen. Wenn die bAV über eine Unterstützungskasse durchgeführt wird, sollte der Leistungsplan an die geänderten gesetzlichen Anspruchsvoraussetzungen angepasst werden, um eine Einstandspflicht des Arbeitgebers zu verhindern. Gleiches gilt, wenn die bAV im Durchführungsweg der Pensionskasse zugesagt wurde. Zusätzlich besteht in letzterem Fall die Diskrepanz zwischen arbeitsrechtlichem Anspruch und aufsichtsrechtlichen Anforderungen, die die Pensionskasse erfüllen muss. Hier besteht noch Klärungsbedarf seitens der BaFin und des Gesetzgebers.