Hier schreiben regelmäßig Aon Expertinnen und Experten zu aktuellen Entwicklungen in den Themenfeldern Risiko, Kapital und Human Resources. Mit diesen Informationen und Erkenntnissen können Führungskräfte bessere Entscheidungen für ihr Unternehmen treffen.
Die erweiterte Rolle der Warenkreditversicherer
Interview mit Burkhard Wittgen von Aon Credit Solutions
Burkhard Wittgen ist Kreditversicherungsspezialist und Mitglied der Geschäftsleitung bei Aon Credit Solutions. Im Interview spricht er über die Auflösung des Schutzschirms am 30. Juni 2021 und die Folgen für Unternehmen. Was sollten Unternehmen jetzt tun? Welche Beratungsleistung ist aktuell gefragter denn je? Wofür steht der Fall „Havarie im Suezkanal“ und warum sollten Warenkreditversicherer unbedingt die digitale Anbindung schaffen? Erfahren Sie mehr!
Als Warenkreditversicherungsmakler konzentrieren Sie sich auf die Absicherung der Forderungen aus Lieferungen und Leistungen. Mit welchen Risiken sehen sich Unternehmen hier typischerweise konfrontiert?
Burkhard Wittgen: Jedes Unternehmen hat Forderungen aus Lieferungen und Leistungen. Es wird eine Dienstleistung erbracht oder Ware geliefert, die aber nicht sofort bezahlt wird. Die Abnehmer erhalten erst eine Rechnung und können dann, je nach Vereinbarung, nach 30, 60 oder auch 360 Tagen bezahlen. Das erbringende Unternehmen sitzt dann natürlich auf einem Risiko. Wenn der Kunde nicht zahlen kann, greift die Kreditversicherung.
Wie können Unternehmen solche Ausfallrisiken vermeiden?
Burkhard Wittgen: Es hilft natürlich, wenn Unternehmen ihre Geschäftspartner:innen gut kennen. Der Kreditversicherer prüft Geschäftspartner:innen dahingehend, ob sie liquide und vertrauenswürdig sind. Stehen Unternehmen gut da, zeichnen Warenkreditversicherer die sogenannten „Kreditversicherungslimite“ auf die einzelnen Abnehmer. Damit sind diese versichert. In der klassischen Warenkreditversicherung hat der Versicherer jederzeit das Recht, die Limite für zukünftige Lieferungen und Leistungen bei Bonitätsverschlechterung aufzuheben oder zu reduzieren. Daher rücken alternative Kreditversicherungskonzepte, wie Excess-of-Loss (XoL) mit unkündbaren Limiten für zwölf Monate immer mehr in den Fokus.
Sie erwähnten, dass Warenkreditversicherer Limite festsetzen und mögliche Geschäftspartner:innen oder Unternehmen bewerten. Wie funktioniert das?
Burkhard Wittgen: Über weltweite Datenbanken, in denen alle Unternehmen erfasst sind. Vieles ist digitalisiert, sodass die Bilanzen der Unternehmen automatisch erfasst sind. Und damit auch die Zahlungserfahrungen. Versicherungsnehmer müssen melden, wenn ihre Kunden nicht rechtzeitig zahlen. Das heißt, der Kreditversicherer hat ein super Überwachungsnetz weltweit, erkennt, wo Bonitätsschwierigkeiten auftreten und kann entsprechend reagieren.
Wenn Sie auf die letzten Jahre blicken: Was hat sich grundlegend in der Branche verändert? Gibt es interessante Entwicklungen?
Burkhard Wittgen: In der Vergangenheit wurden Kreditversicherungen oft nur punktuell von international tätigen Unternehmen gekauft. Da war nichts koordiniert. So konnten Unternehmen aber nicht ihre Einkaufsmacht ausspielen, um das bestmögliche Angebot am Markt zu erhalten. Mittlerweile gibt es jedoch internationale Programmlösungen, die eine zentrale Verhandlung und zugleich lokale Umsetzung der Kreditversicherungspolicen erlauben. Des Weiteren ermöglichen Kreditversicherungsprogramme die tagesaktuelle Analyse von Kumulrisiken eines Unternehmens gegenüber Abnehmergruppen und deren Deckungsquoten.
Welche konkreten Versicherungen sind zurzeit besonders gefragt und wie reagiert Aon auf diese?
Burkhard Wittgen: Limitoptimierung ist für uns das Gebot der Stunde. Werden Limite reduziert, sind regelmäßige Limitverhandlungen mit dem Kreditversicherer und unseren Kunden oder sogar zusätzliche Kapazitätsgeber gefragt. Und Top-up-Policen. Ein zweiter Kreditversicherer erleichtert die Risikosteuerung, indem die Risiken auf mehrere Partner verteilt und Unternehmen bestmöglich abgedeckt werden.
Gibt es eine Beratungsleistung, die seit der Pandemie noch wichtiger geworden ist?
Burkhard Wittgen: Ja, das Thema Finanzierung. In letzter Zeit gab es viele Hilfsprogramme der Regierung, wodurch extrem viel Geld in den Markt geschwemmt wurde. Aber auch die sind endlich. Um ihre Liquiditätssituation in Zukunft zu verbessern, können Unternehmen ihre kreditversicherte Forderung auch verkaufen und sofort Liquidität generieren. Denn sobald Unternehmen in einen Wachstumsmodus zurückkehren, werden sie wieder investieren müssen. Wenn die Banklinien aber starr sind und Kreditvergabe restriktiver wird, werden Investitionen nicht im gewünschten Maße möglich sein. Daher ist ein diversifizierter Finanzierungsmix unabdingbar.
Wozu raten Sie?
Burkhard Wittgen: Je höher ein Forderungsbestand, desto höher die Liquidität durch den Forderungsverkauf. Factoring und auch Kautionsversicherungen schaffen finanziellen Spielraum. Auch in der Kautionsversicherung nutzen Unternehmen ihre eigene gute Bonität aus, um Bankgarantien durch Bürgschaften des Kredit- und Kautionsversicherungsmarktes zu ersetzen. Damit blockieren die Bankgarantien nicht mehr die Finanzierungslinien bei den finanzierenden Banken, sie erhalten mehr Flexibilität und können gestärkt aus der Krise starten.
Um Lieferketten und Warenströme zu stabilisieren, haben Bund und Warenkreditversicherer vor gut einem Jahr einen gemeinsamen Schutzschirm gespannt. Was hat er gebracht?
Burkhard Wittgen: Sehr viel Sicherheit. Als Corona ausbrach und der erste Lockdown kam, gab es eine Panik, dass die Wirtschaft einbrechen, keine Geschäfte mehr stattfinden und Unternehmen reihenweise in die Insolvenz gehen würden. Durch den Schutzschirm konnten die Kreditversicherer ihre Limite teilweise auf einem hohen Niveau halten. Dadurch ist ein gefürchteter Dominoeffekt ausgeblieben. Denn: Wenn Kund:innen die Limite erst einmal gestrichen werden und sie nicht mehr versichert sind, können sie z. B. auf Vorkasse umstellen. Oder sie beliefern gar nicht mehr. Der Effekt daraus wäre fatal gewesen. Kunden oder Abnehmer wären noch eher in Schieflage geraten.
Wie haben Sie diese Phase mit Ihren Kund:innen erlebt?
Burkhard Wittgen: Es war herausfordernd, mit ihnen über die Limite zu sprechen. Wir haben gemeinsam überprüft, bei welchen Kund:innen Limite bestanden, die gar nicht mehr gebraucht wurden, um dem Markt die Deckung zurückzugeben. Der Risikodialog bestand auch darin, die Kapazitäten sinnvoll umzuschichten und sie wirklich dort zu haben, wo sie gebraucht werden.
Nun wurde der Schutzschirm zum 30. Juni aufgelöst. Haben Sie damit gerechnet?
Burkhard Wittgen: Es gab die Diskussion zwischen Bund und Kreditversicherern, den Schutzschirm erneut zu verlängern. Aber die große Insolvenzwelle ist bisher ausgeblieben. Die Kreditversicherer erwarten sie voraussichtlich verteilt über die nächsten Jahre. Eine Verlängerung des Schutzschirms für weitere sechs Monate hätte also in dieser Form keinen Sinn mehr für die Kreditversicherer gemacht. Sie mussten schätzungsweise mehr als 60 Prozent ihrer Prämie an den Bund abgeben. Und entschieden für sich, wieder in die Eigenprüfung zu gehen sowie in die Finanzkommunikation mit den eigenen Kund:innen.
Gab es auch panische Anfragen von Unternehmen, die mit einer Verlängerung des Schutzschirms gerechnet haben?
Burkhard Wittgen: In der Risikoberatung bereiten wir unsere Kund:innen frühzeitig auf solche Fälle vor. So haben wir sie bereits Ende letzten Jahres gebeten, sich ihre Abnehmer anzusehen, ihre Limite zu überprüfen und mit ihrem Vertrieb auszumachen, wo wirklich Deckung benötigt wird. Bei steigenden Insolvenzen wird es schwieriger sein, ausreichend Deckungen zu bekommen. Unternehmen sollten daher genau prüfen, in welchem Bereich sie dem Kreditversicherer etwas zurückgeben können und wofür sie vielleicht mehr Limite brauchen.
Wie können sich Unternehmen, die über Kreditversicherungen verfügen, noch auf die kommende Zeit vorbereiten?
Burkhard Wittgen: Ich denke, Unternehmen, die versichert sind, werden ihre Beziehung zu ihrem Anbieter prüfen und reflektieren, wie er sich in der Krise verhalten hat. Hat sich der Partner nicht bewährt, macht es Sinn, konsequent zu sein und das Projekt in der Verlängerung neu auszuschreiben. Das ist auch ein Signal an den Versicherungsmarkt: Gute Performance in Krisenzeiten wird belohnt. Bei größeren Unternehmen gilt abzuwägen, ob man weiterhin auf eine Karte setzt oder ob nicht auch eine Syndizierungslösung, also eine Multi-Versicherer-Strategie mit zwei oder drei Versicherern, mehr Sinn macht.
Welcher ist der smartere Weg?
Burkhard Wittgen: Es kommt immer darauf an, wie das Unternehmen aufgestellt ist. Unternehmen mit einem starken eigenen Debitorenmanagement benötigen eine Kreditversicherung beispielsweise nur für bilanzgefährdende Ausfälle. Mit einer ‚Art Excess of Loss‘-Kreditversicherung wird das Debitorenmanagement versichert und der größte Teil der Limite auf Basis der eigenen Kreditmanagement-Guidelines definiert.
Was raten Sie Unternehmen für die nächsten Monate?
Burkhard Wittgen: Kommunikation und Informationsaustausch sind das A und O, um erfolgreich aus der Krise zu finden. Wir raten unseren Kunden, gemeinsam mit uns in den proaktiven Dialog mit den Kreditversicherern zu gehen. Positive Zahlungserfahrung und gut gefüllte Auftragsbücher mit den Abnehmern können die Kreditversicherer überzeugen, auch schwierigere Deckungen rauszulegen. In Zukunft sollten sie zudem immer auf den ‚worst case‘ vorbereitet sein und anstelle von starken Abhängigkeiten verschiedene Lösungsmöglichkeiten entwickeln. Sinnvoll kann auch sein, einen zweiten Kreditversicherer oder einen Top-up-Versicherer zu engagieren, der einspringt, wenn der Erstversicherer nicht komplett übernehmen kann. Syndizierungen sind auch gut und richtig, wenn Unternehmen viele große Abnehmer mit großen Limiten haben und sich die Versicherer schwer tun, die Limite alleine zu zeichnen.
Auch die Havarie im Suezkanal hat in diesem Jahr für viel Aufsehen gesorgt. Wofür steht diese Krise aus Ihrer Sicht und was können wir daraus lernen?
Burkhard Wittgen: Solche Krisen verdeutlichen, dass wir in keinem risikoarmen Umfeld leben. Dass z. B. ein einziger Tanker eine der wichtigsten Logistiklinien der Weltwirtschaft blockiert, Lieferungen stagnieren, Unternehmen ihre Waren weder fertigstellen noch verkaufen können, länger auf Gelder warten und dadurch in Schieflage geraten: Die Havarie im Suezkanal steht dafür, dass ein einzelnes Ereignis die Situation in der gesamten Weltwirtschaft beeinflussen kann. Und alles, was die Weltwirtschaft beeinflusst, beeinflusst auch die Bonität von Unternehmen.
Abschließend noch ein Blick in die Zukunft: Wie wird Kreditversicherung in fünf Jahren aussehen?
Burkhard Wittgen: Die Digitalisierung wird weiter an Fahrt aufnehmen und auch die Zahlungsprozesse im B2B-Bereich verändern. Im kleinen Rahmen kennen wir das schon von Klarna oder PayPal: Hier können wir als Kund:innen entscheiden, wann wir für Waren oder Leistungen bezahlen. Große Technologiekonzerne nutzen die Daten daraus, um auch Versicherungslösungen oder Zahlungsziele anzubieten. Ich bin gespannt, inwieweit diese großen Technologiekonzerne in den Bereich B2B-Zahlungen einziehen und den einen oder anderen Warenkreditversicherer durch digitale Lösungen obsolet machen. Sie sind einfach in die neuartigen Geschäftsprozesse der Unternehmen integrierbar. Spannend wird sein, wie sich die Warenkreditversicherer selber auf diese digitale Herausforderung einstellen. Deshalb müssen sie die digitale Anbindung schaffen: um relevant zu bleiben!
Die Langfassung des Interviews wurde auf dem enomyc Blog veröffentlicht.