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Betriebsrentenanpassung in der Inflation – Revival der Anpassung nach der Nettolohnentwicklung?
Nach § 16 BetrAVG sind Arbeitgeber verpflichtet, alle drei Jahre zu prüfen, ob die von ihnen gewährten Betriebsrenten angepasst werden müssen. In der Regel passen die Arbeitgeber die Betriebsrenten entsprechend der Entwicklung des Verbraucherpreisindex‘ – kurz „VPI“ – an und gleichen auf diese Weise den Kaufkraftverlust der Betriebsrentenaus. Da der VPI in Zeiten der Inflation derzeit jedoch einen außergewöhnlichen Anstieg erlebt, wird die Betriebsrentenanpassung für viele Arbeitgeber zur Herausforderung.
Jürgen Depner und Roland Horbrügger von Aon berichten im Interview über die Möglichkeiten und die Sinnhaftigkeit, die Anpassung der Renten entsprechend der Entwicklung der Nettolöhne vergleichbarer aktiver Arbeitnehmergruppen vorzunehmen.
Welche Auswirkungen hat die hohe Inflation auf die Verpflichtung zur Anpassung der Betriebsrenten?
Roland Horbrügger: Generell sieht das Betriebsrentengesetz zwei Möglichkeiten dafür vor, wie Arbeitgeber die Betriebsrenten an die Entwicklung der Lebenshaltungskosten anpassen und Kaufkraftverluste ausgleichen können: Die Arbeitgeber, die ihren ehemaligen Mitarbeitern eine Betriebsrente zahlen, können den Anpassungsbedarf entweder anhand der Entwicklung des VPI oder aber anhand der Entwicklung der Nettolöhne von vergleichbaren Arbeitnehmergruppen im Unternehmen ermitteln. Der Großteil der Arbeitgeber richtet sich nach der VPI-Entwicklung.
Jürgen Depner: Und wenn Arbeitgeber den Anpassungsbedarf der Betriebsrenten nach der Entwicklung des VPI ermitteln, kann dies bei kürzlich beginnenden Rentenzahlungen zu deutlichen Erhöhungen führen. Von März 2019 bis März 2022 stieg der VPI um gerundet 10,65 Prozent. Eine Monatsrente von 100 Euro, die erstmals im März 2019 gezahlt wurde, müsste dann ab März 2022 grundsätzlich auf 110,65 Euro angehoben werden.
Bietet sich dann nicht an, die Renten anhand der Entwicklung der Nettolöhne vergleichbarer Arbeitnehmergruppen anzupassen? Gibt es weitere Vorteile?
Jürgen Depner: Natürlich ist eine Anpassung der laufenden Renten um 10,65 Prozent viel. Die Nettolöhne der Arbeitnehmer stiegen i.d.R. in den vergangenen drei Jahren nicht in entsprechender Höhe an, sodass die im März 2022 laufenden Renten im März 2022 nicht um 10,65 Prozent angehoben werden müssten, wenn man sich bei der Ermittlung des Anpassungsbedarfs an der Entwicklung der Nettolöhne orientieren würde. Die Bruttolöhne im Tarifbereich der Metall- und Elektroindustrie wurden von 2019 bis 2022 beispielsweise „nur“ um 4,68 Prozent erhöht. Das ist ein deutlicher Unterschied.
Roland Horbrügger: Dazu kommt, dass eine Anpassung der Betriebsrenten entsprechend der Nettolohnentwicklung einen positiven Effekt auf die Mitarbeiterzufriedenheit haben kann. Denn würde der VPI bei der Anpassung der Renten zugrunde gelegt, würden die Renten deutlich höher steigen als die Gehälter aktiver Mitarbeiter. Das hat Potential, im Unternehmen für Unfrieden zu sorgen.
Hat denn die Anpassung nach der Entwicklung der Nettolöhne auch Nachteile?
Roland Horbrügger: Auf jeden Fall. Die Anpassung der Renten entsprechend dem Anstieg der Nettolöhne vergleichbarer aktiver Mitarbeiter ist nicht immer leicht durchzuführen, da man unter Umständen nach einem gewissen Zeitablauf nicht mehr feststellen kann, zu welcher Arbeitnehmergruppe ein Rentner früher gehörte. Vielleicht existiert auch gar keine vergleichbare Arbeitnehmergruppe mehr in der aktiven Belegschaft. Weiterhin ist zu bedenken, dass die Ermittlung der Nettoeinkommen der vergleichbaren Arbeitnehmergruppe im Einzelfall problematisch sein kann. Man muss viele Fragen beantworten. Wie berücksichtigt man beispielsweise wiederkehrende Jahreszahlungen und welche Prämissen wähle ich bei der Ermittlung des Nettolohns?
Jürgen Depner: Und bei der Rentenanpassung muss für jeden Rentner individuell der Anpassungsbedarf vom Rentenbeginn bis zum jeweiligem Anpassungsstichtag ermittelt werden. Das heißt, im schlimmsten Fall sind für jede entsprechende Arbeitnehmergruppe die Nettogehälter für jeden einzelnen Monat der letzten Jahre oder sogar Jahrzehnte zu bestimmen. Das ist ein riesiger Administrationsaufwand.
Kann sich die Anpassung nach der Nettolohnentwicklung trotzdem lohnen?
Roland Horbrügger: Letztendlich geht es immer um eine Abwägung im Einzelfall. Wie gesagt: Bei jeder anzupassenden Rente ist immer der Anpassungsbedarf vom Beginn der Rentenzahlung bis zum jeweiligen Anpassungsstichtag zu ermitteln. Für kurz laufende Renten ist die Ermittlung der Nettoeinkommen häufig noch problemlos möglich und für kurz laufende Renten fällt der Vergleich zwischen der Entwicklung des VPI und der Entwicklung der Nettolöhne – wie bereits dargestellt – i.d.R. zugunsten der Anpassung nach der Nettolohnentwicklung aus.
Jürgen Depner: Aber je länger die Betriebsrenten bereits laufen, desto häufiger ist die Ermittlung des Anpassungsbedarfs anhand des VPI vorteilhaft. Grob gesagt, ist der VPI von 1992 bis 2022 um 68,81 Prozent gestiegen. Im gleichen Zeitraum sind die Bruttolöhne der Tarifmitarbeiter in der Metall- und Elektroindustrie um 111,23 Prozent erhöht worden. Vor allem im Tarifbereich haben die Lohnerhöhungen in der Vergangenheit die Entwicklung des VPI deutlich übertroffen. Für bereits jahrelang laufende Renten wird die Anpassung entsprechend der Entwicklung des VPI häufig trotz der aktuell hohen Inflation noch der günstigere Weg sein.
Was würden Sie den Arbeitgebern letztlich empfehlen?
Jürgen Depner: Es wird sich häufig für Arbeitgeber bereits lohnen, sich mit dem Thema Rentenanpassung überhaupt einmal zu befassen. Auch kann es sinnvoll sein, eine Vergleichsberechnung durch Experten aufstellen und das bestehende Einsparpotenzial ermitteln zu lassen. Natürlich wird das Potential i.d.R. nur bei kurz laufenden Renten sowie dann gegeben sein, wenn die Gehälter der aktiven Arbeitnehmer in der Vergangenheit in geringerem Umfang erhöht wurden, als der VPI gestiegen ist.
Roland Horbrügger: Fakt ist aber, dass es eine Alternative zur Anpassung nach der Entwicklung des VPI gibt und dass es gut ist, diese zu kennen. Wenn sich Arbeitgeber für diese Möglichkeit der Kostenersparnis entscheiden, macht es auf jeden Fall Sinn, Experten zu Rate zu ziehen, die die umfangreichen und teilweise strengen Vorgaben der Rechtsprechung für die Rechtswirksamkeit einer Anpassung der laufenden Renten entsprechend der Nettolohnentwicklung vergleichbarer Arbeitnehmergruppen kennen und umsetzen können.
Fazit:
Insbesondere für die Anpassung kurz laufender Renten kann es sich kostenreduzierend auswirken, wenn der Anpassungsbedarf anhand der Entwicklung der Nettogehälter vergleichbarer Arbeitnehmergruppen ermittelt wird. Allerdings dürfen Arbeitgeber den hohen administrativen Aufwand, der mit der Ermittlung der Vergleichsgruppe und der Nettogehälter einhergeht, nicht scheuen. Für länger laufende Betriebsrenten ist deren Anpassung entsprechend der Entwicklung des VPI häufig trotz der aktuell hohen Inflation der kostengünstigere Weg.